Marcus Bösch. Understanding TikTok. Version: 13.5.2022
Der tanzende ukrainische Soldat @alexhook2303 gelangt in den ersten Wochen des Krieges zu Berühmtheit und sammelt mehr als 44 Millionen Likes. Die internationale Presse berichtet (India Times, Daily Mail, SWR3), seine Videos werden Teil einer TikTok Kampagne von TikTok Ukraine.
Valeria Shashenok (@valerissh) gehört zu dem einen Prozent der Ukrainer*innen, die auch vor dem russischen Einmarsch TikTok genutzt haben. Sie dokumentiert ihren Alltag in der nordukrainischen Stadt Tschernihiw und ihre Flucht nach Italien.
TikTok ist – von vielen unerwartet – zu einem zentralen Ort der Kriegsberichterstattung 2022 geworden. Hier finden sich erste Hinweise auf russische Truppenbewegungen, eine multiperspektivische Dokumentation der Invasion, Augenzeugenberichte, Kampfhandlungen, Kommentare, Solidaritätsbekundungen und Propaganda. Videos mit dem Hashtag #Ukraine wurden (Stand: 10.5.2022) 41,7 Milliarden mal angeschaut. Vor Kriegsbeginn waren es 6,4 Milliarden.
The app has become so influential in this conflict that Ukrainian President Volodymyr Zelenskiy appealed to "TikTokers" as a group that could help end the war, in a speech directed at Russian citizens.
Quelle: Reuters
Schon Wochen vor der Invasion haben russische TikTok Nutzer*innen Truppenbewegung dokumentiert. Journalist*innen und OSINT (Open Source Intelligence) Expert*innen haben diese Videos u.a. mit Satellitenbildern abgeglichen. Weitere Informationen und Links zum Phänomen #TankTok in meinem Newsletter #69, #71. Empfohlen sei hier ein Artikel in der Washington Post: The TikTok buildup: Videos reveal Russian forces closing in on Ukraine. Und das Video TikToks and Satellite Images Show Russia’s Path to Attack in Ukraine des Wall Street Journals.
Während diverse Expert*innen unter anderem lang gediente ARD-Korrespondentinnen in Russland noch am nahenden Angriff zweifeln (oder überzeugt sind, dass Putin "am Ende nicht angreifen wird"), äußern Nutzer*innen auf der Plattform ihre Angst. Zu den Bewältigungsstrategien gehören aktionistische, mit popkulturellen Anspielungen versehene, humorvolle, kurze Video-Einwürfe und audiovisuelle Bastelarbeiten, die vielleicht naiv wirken, hier und dort aber konkrete Ereignisse (z.B. Den Kriegsbeginn, Flucht, Tracking von Smartphones für Angriffe, etc.) vorausahnen. Leider verfangen Bemühungen Vladdy Daddy mit eilig übersetzen Kommentaren bei TikTok zu überzeugen, nicht.
Am 24.4.2022 von der ukrainischen Nutzerin Marta Vasyuta (@martavasyuta) gepostet. Zahlreiche Berichte und Aufnahmen belegen, dass Luftangriffe auf den Militärflughafen von Iwano-Frankiwsk am Morgen des 24. Februar 2022 erfolgten (Correctiv.org).
A resident of Hostomel, just northwest of Kyiv, shows his apartement after it was badly damaged in a Russian military attack. Source: @nbcbews, 25.2.2022
Die 18-jährige Alina Volik (@alina__volik) aus Saporischschja postete auf der Plattform Urlaubsvideos, jetzt dokumentiert sie ihr Leben im Ausnahmezustand. Hier am 26.2.2022.
Die 18-jährige Dzvinka Hlibovytska (@dzvnks) lebt im Westen der Ukraine. Sie dokumentiert ihren Alltag in Lwiw und ihr Leben in den USA nach der Flucht aus der Ukraine auf TikTok. Video vom 3.3.2022.
Die 20 jährige Valerie Shashenok (@valerisssh) dokumentiert ihren Alltag im Krieg, ihre Flucht und ihr neues Leben in Italien. Ihr jüngerer Bruder ist in der Ukraine gefallen, ihre Eltern harren weiter aus. Video vom 5.3.2022
These remarkably light-hearted videos are a ‘fuck you’ two-fingers to the genocidal Putin and his cronies who are wreaking havoc across Ukraine.
Quelle: Irdil Galip, The Face
Bereits in den ersten Stunden der Invasion wird TikTok mit einer verwirrenden Mischung aus Propaganda-Videos, Augenzeugenberichten und Fehlinformationen (Fake Sound Example @utochka_29, Der Fallschirmsprung) geflutet. Der Algorithmus spült interessierten Nutzer*innen immer mehr Kriegscontent auf die For You Page. Ein Umstand der von einigen ausgenutzt wird, einige Nutzer*innen setzen Fake-Livestreams aus dem Kriegsgebiet auf und bitten um Spenden. Andere verwenden Sounds von Schüssen und Schreien, um so zu tun, als seien sie im Konfliktgebiet. Weiterlesen zum Beispiel hier bei der Washington Post oder bei Media Matters. Im weiteren Verlauf des Krieges wird es noch komplizierter. Falsche Faktenchecks führen zu Verwirrung und Irritation (Pro Publica). Hier ein weiterführender Text zu Misinformationen (The Media Manipulation Casebook) auf der Plattform. Weiterhin gilt: At the same time TikTok proves to be “the most reliable source we have” (New Yorker) AND the epicenter of mis- and disinformation.
TikTok’s algorithm and its popular feature that allows people to reuse audio from any video are enabling the spread of misinformation in the midst of the Russian invasion of Ukraine.
Quelle: Abbie Richards, Media Matters
Der Geist von Kiew ist eine moderne Sage um einen angeblichen ukrainischen Piloten einer MiG-29, die sich Ende Februar 2022 viral in den sozialen Medien verbreitete (Wikipedia). Die Ukrainische Air Force hat Anfang Mai (NBC News) zugegeben, dass es den Geist nicht gibt. Vgl. auch Snake Island.
Die ukrainische Organisation Visit Ukraine bietet auf TikTok eigentlich Tourismus-Videos – unterstützt von der staatlichen Tourismusbehörde. In Kriegszeiten hat sich der Fokus verlagert. Jetzt gibt es tanzende Soldaten oder süße Tiere.
Russisch kontrollierte Medien fluten TikTok mit Desinformationen, berichtet das Institute for Strategic Dialogue: #Propaganda: Russia State-Controlled Media Flood TikTok With Ukraine Disinformation. Auch nachdem TikTok den Upload neuer Videos aus Russland unterbunden hat, posten einige Accounts wie RIA Novosti und die Chefredakteurin von RT Margarita Simonya weiter (Techcrunch), bevor die meisten Accounts Anfang Mai gesperrt werden (Vgl. Ciaran O'Connor). Die in Berlin ansässige Medienagentur Redfish publiziert weiter, versehen mit dem Hinweis von TikTok: Staatlich kontrollierte Medien (Russland). Eine hier häufig angewendete Technik nennt sich tu quoque (“you too”). Vgl. auch this video and this explanation via Politico.
Koordinierte Aktionen unter Einbindung von russischen Creator*innen sind eine andere Spielart der Desinformation: Over 180 Russian influencers on TikTok are involved in a seemingly concerted propaganda campaign using the caption “Russian Lives Matter” and participating in a combination of three trends that promote online support for Russia's war in Ukraine (MediaMatters). Vgl. dazu auch Vice: Russian TikTok Influencers Are Being Paid to Spread Kremlin Propaganda. Darin: Der Supercut. Hier der Original-Masquerade Tanz.
Medienforscherin Tanja Maier hat am Freitag auf der "Influencing against the system?" Konferenz auf ein Reframing bekannter Geflüchtetennarrative durch soziale Medien hingewiesen. Dies lässt sich exemplarisch sehr gut auf TikTok nachvollziehen. Hier sind Geflüchtete aktive Subjekte die selbst berichten, eigene Bilder und Sounds verwenden (Hannover) und vielfach nicht mal annähernd vorhandenen Klischees traditioneller Medien und Rezipient*innen entsprechen. Du siehst nicht aus wie ein Refugee. Mit diesem Kommentar auf TikTok setzt sich TikTok Nutzerin @Vallorie kreativ auseinander.
While it might seem strange to see people make social media posts about war, particularly highly aestheticized ones that use meme formats, jokes, songs, filters, edits, and other aspects of the TikTok toolkit, wouldn’t it be stranger if they didn’t?“
Quelle: Tinyletter
Am 6. März hat TikTok alle neuen Videos und Livestreams aus Russland heraus verboten. Damit reagierte die Plattform laut eigenen Angaben auf ein drakonisches neues Gesetz, mit dem Russland die Verbreitung von vermeintlichen „Falschinformationen“ über die russische Invasion in der Ukraine mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft (Netzpolitik): Geschätzte 95 Prozent der Videos auf TikTok sind damit für das russische Publikum von einem Tag auf den anderen einfach verschwunden, schreiben Forscher*innen von tracking.exposed.
TikTok created an alternate universe just for Russia, schreibt die Washington Post. Die Norwegian Broadcasting Corporation hat zwei künstliche Accounts aus der Ukraine und Russland kreiert, um die drastischen Unterschiede in der Nutzung von TikTok seit dem 6.3.2022 zu visualisieren: Worlds Apart.
Anfang / Mitte Mai 2022 ist kein baldiges Ende des Krieges in Sicht. Jeden Tag sterben Menschen. Jeden Tag wird der Krieg mit unzähligen Smartphones dokumentiert. Vgl. Bellingcat, Russia’s Bucha ‘Facts’ Versus the Evidence. Und Pazifismus? Eine Luxus, den man sich leisten können muss (Jungle World).